Die erste, 1995 in Gladbeck eingeweihte Gedenkstätte für Verstorbene Drogengebraucher*innen ist allein dem Engagement von Karin Stumpf zu verdanken. Am 30. Mai 2022 ist sie nach langer Krankheit gestorben. Jürgen Heimchen, Mitbegründer des Bundesverbandes der Eltern und Angehörigen für akzeptierende Drogenarbeit e.V., erinnert an diese wichtige Mitstreiterin in der akzeptierenden Drogenarbeit.
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.
Ihr Sohn war bereits seit drei Tagen tot, als man ihn im Juli 1994 in einem Gebüsch in der Nähe eines Essener Obdachlosenheims aufgefunden hatte. Die Todesumstände blieben ungeklärt. Karin Stumpf war bis zuletzt davon überzeugt, dass ihr Sohn Ingo – anders als es im offiziellen Befund zu lesen war – nicht aufgrund seiner Drogenabhängigkeit Suizid begangen hatte, sondern womöglich Opfer einer Gewalttat wurde.
Den Verlust hat Karin Stumpf nie verwunden. Die Trauer hat ihr ganzes Leben bestimmt, doch sie zog aus ihr auch eine schier unendliche Energie. Ich habe mir für mein Leben einen Satz von Bertolt Brecht zu eigen gemacht: „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das hätte auch als Lebensmotto auf Karin gepasst. Ihr war es im Alleingang gelungen, dass die Stadt Gladbeck einen Platz im Wittringer Wald bewilligt hat, um dort einen Stein für verstorbene Drogengebraucher*innen aufzustellen. Es war die erste Gedenkstätte dieser Art überhaupt. Sie hatte nicht nachgelassen und den Verantwortlichen bei den Behörden ihr Anliegen so lange vorgetragen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Eine ortsansässige Baumittelfirma spendete einen Findling, Baumschulen trugen sieben Eichen bei, die an der Gedenkstätte gepflanzt wurden.
Karin hat für diesen Gedenkort gekämpft. Sie hätte den Kampf auch hätte verlieren können, doch sie hat ihn gewonnen. Und sie hat mich dadurch motiviert, ebenfalls zu kämpfen.
Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Zum ersten Mal persönlich begegnet bin ich ihr bei einem Treffen des Landesverbands für akzeptierende Drogenarbeit, zuvor hatten wir nur miteinander telefoniert. Die Erfahrung, einen drogenkonsumierenden Sohn verloren zu haben, hatte uns zusammen und nahegebracht. Karin war für mich gleichermaßen Freundin, Mitstreiterin und Leidensgenossin, denn wir hatten die gleiche Trauer durchlebt. Mein Sohn Thorsten war wie Ingo drogenabhängig und hat 1992 mit nur 21 Jahren in Polizeigewahrsam Suizid begangen. Karin und ich haben uns verstanden, ohne darüber unbedingt sprechen zu müssen, denn wir hatten ähnliche Erfahrungen gemacht und ähnliches Leid erlitten.
Verbunden hat uns zudem auch das Wissen, dass nicht die Drogen, sondern eine repressive Drogenpolitik und damit auch die Bedingungen, unter denen gerade in den 90er Jahren Menschen Drogen konsumieren mussten, Ursache für den Tod unserer Söhne waren.
Am 21. Juli 1997 hatte Karin Stumpf mit einem guten Dutzend weiterer Menschen eine Mahnwache abgehalten, um auf diese fehlgeleitete Drogenpolitik und deren Folgen aufmerksam zu machen. So entstand bei mir die Idee, den 21. Juli als bundesweiten Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher*innen zu etablieren. Karin hat in den Folgejahren noch einige Male selbst die Mahnwache am Gladbecker Gedenkort organisiert und eine Selbsthilfegruppe für Eltern und Angehörige von verstorbenen Drogenkonsument*innen geleitet. Doch krankheitsbedingt hat sie sich immer mehr zurückgezogen.
In den letzten 20 Jahren haben wir uns deshalb nicht mehr persönlich getroffen, aber wir blieben in telefonischem Kontakt. Der Tod ihres Sohnes war dabei immer Thema. Anders als ich, der die Trauer zum Antrieb meiner politischen Arbeit machen konnte, hat Karin ihre Trauer um Ingo nie wirklich verarbeiten können.
Nicht nur uns Eltern von drogengebrauchenden Kindern wird sie immer in Erinnerung bleiben, denn ihr Name bleibt untrennbar mit dem mittlerweile weltweit in über 100 Städten begangenen Gedenktag am 21. Juli verbunden. So lange es diesen geben wird, wird auch ihr Name in Erinnerung bleiben.
Sie hatte den zündenden Gedanken für diesen Gedenktag. Und sie schuf damit allen Drogenkonsument*innen und deren An- und Zugehörigen einen Ort und einen Tag, an dem sie ihrer Trauer öffentlich und in Gemeinschaft Ausdruck verleihen können. Dafür können wir ihr nur von Herzen danken.